Der Begreifler über Charaktere mit Figur

Der Begreifler, Foto: Stocksnapper

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Vor einiger Zeit fiel mir in einem Forum eine Diskussion darüber auf, ob Blogger, die bei Buchbesprechungen von Charakteren statt von Figuren schreiben, damit einen (unverzeihlichen) Fehler begehen. Ersterer Begriff sei eine unzulässige Eindeutschung aus dem Englischen, die man dringend zu vermeiden habe.

Stimmt das? Und wenn nicht, sind dann die Begriffe vollständig synonym?

Jedenfalls sind Figuren (außer im Falle einer ironisierenden oder abwertenden Bezeichnung) keine Personen. Personen sind etwas Reales, sind oder waren einmal wirklich am Leben. Figuren dagegen werden künstlich erschaffen, im Falle der Literatur also als Teil der Fiktion (selbst dann, wenn sie sich an realen Vorbildern orientieren).

Jeder und jede, der/die in einer Fiktion seinen/ihren Auftritt hat, ist also eine Figur. Manche von ihnen treten allerdings nur als Typen auf, andere sind echte Charaktere. Zu dieser Unterteilung heißt es bei Wilpert:

Type, Typus (griech. typos = Schlag, Gestalt), bestimmte überindividuell unveränderl. Figur mit feststehenden Merkmalen […]

Charakter (griech. = das Eingeprägte), in der Literaturwissenschaft allg. jede in e. dramat. oder erzählerischen Werk auftretende, der Wirklichkeit nachgebildete oder fingierte, aber durch individuellere Charakterisierung in ihrer persönl. Eigenart von den bloßen unprofilierten Typen abgehobene Figur einer Dichtung.

Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989

Wir haben es also in literarischen Werken mit Figuren zu tun, die entweder nur einen bestimmten Typus* (der Polizist, der Bote) verkörpern oder aber individuell gestaltete Charaktere sind.

*Natürlich können Typen auch versehentlich entstehen, wenn es dem Autor nicht gelingt, eine Figur individuell zu charakterisieren, im Allgemeinen darf man aber davon ausgehen, dass hinter der Verwendung eines Typus durchaus Absicht steckt.

Was die Hauptfigur frühstückt

Tom erwachte wie jeden Morgen, als sein grüner Wecker klingelte. Er stand auf und streckte sich. Dann ging er schlaftrunken ins Bad. Er schaute in den Spiegel. Lamgsam zog er seinen weiß-blauen Schlafanzug aus, gähnte, ging zur Dusche und stellte das Wasser an. Dann stellte er sich selbst unter den Wasserstrahl. Er duschte etwa 14 Minuten. Nach dem Duschen trocknete er sich ab. Er zog seinen blauen Bademantel an und schlurfte in die Küche. Dort stellte er das Radio an und summte leise die Melodie von „Bodies“ von Robbie Williams mit. Dabei öffnete er den Kühlschrank und holte Butter, Erdbeermarmelade, Leberwurst und Frischkäse heraus. Er stellte alles auf den kleinen Küchentisch und deckte noch einen Teller, ein Messer und eine Kaffeetasse dazu. Dann holte er noch die …

Sicher seht ihr schon, worauf ich hinaus will. Eine Geschichte, wie wir sie lesen wollen, ist kein minutiöses Protokoll. Sie entwickelt sich, indem sie die für die Erzählung relevanten Augenblicke aus dem fiktiven Leben ihrer Protagonisten herausgreift. Der Erzähler wählt aus. Und zwar nur das, was für die Geschichte wichtig ist. Dazu gehören nur die Dinge, die entweder unmittelbar oder vorausgreifend für die Entwicklung des erzählten Konflikts bedeutend sind. Außerdem entsprechend diejenigen, die die Nebenhandlungen vorantreiben. Und mit beidem verknüpft solche Passagen, die dem Leser wichtige Informationen über die handelnden Figuren, Örtlichkeiten und weitere Umstände liefern.

Alltäglichkeiten wie die morgendlichen Rituale beim Aufstehen, bei der Morgentoilette und dem Frühstück gehören in den seltensten Fällen dazu. Nur wenn dem Leser damit etwas Wichtiges gezeigt werden soll (zum Beispiel, dass die ansonsten überpenible Hauptfigur morgens erst eine Weile braucht, um in diese Rolle zu schlüpfen), können auch solche Alltäglichkeiten ihren Platz in der Geschichte verdient haben.

Gleiches gilt übrigens auch für Ereignisse, die vielleicht gar nicht so alltäglich erscheinen. Wenn ein Protagonist nur deshalb auf eine feuchtfröhliche Feier geht, weil der Autor mal eben das Bedürfnis hatte, ein paar Partyszenen zu schildern, dann erfüllen diese Szenen in der Geschichte selbst keinen Zweck und sollten schleunigst wieder gestrichen werden.